Sylvia lebt nicht mehr - Der Tod gehört zum Leben
Die Aufnahme wurde am 30.04.2011 auf dem weiträumigen Gelände der Evangelischen Stiftung Ummeln gemacht. |
Am 16.07.2015 ist meine Schwester im Mara II Krankenhaus in Bethel gegen 18.00 Uhr im Alter von 57 Jahren verstorben. So erzählte es mir die Sozialpädagogin und Mitarbeiterin der Evangelischen Stiftung Ummeln, Frau Renate Brücker-H..., die bis zum Ende Bezugs- und Vertrauensperson von Sylvia war. Ganz lieb, fest und kräftig soll sie ein oder zwei Tage vor ihrem Tod, die Hand von Frau Brücker gedrückt haben, mit der sie per "Du" war. Da ahnte sie vermutlich schon, dass sie bald aus diesem Leben für immer scheiden würde. Wenn meine Schwester mich ab und an mal anrief, nannte sie mich zärtlich und liebevoll "Manni". Einen ihrer letzten Wünsche konnte ich ihr nicht erfüllen. Sie hatte mich gebeten, dass ich sie zu Weihnachten 2014 besuche. Auch die "Segnungen" des Fonds Heimerziehung (Rentenersatzleistungen plus 10.000 Euro) wurden ihr nicht mehr zuteil, da sie vor der Bewilligung des Antrages verstorben ist.
Zwar hatte ich immer im Auge, dass Sylvia nicht mehr lange leben würde, weil ihre geistigen, seelischen und körperlichen Behinderungen doch beträchtlich waren, dennoch kam ihr Tod plötzlich, heftig und unerwartet. Am Ende ihres Lebens wog sie lediglich nur noch ungefähr 36 Kg. Sie hat nun den Frieden gefunden, den sie in ihrem kurzen Leben niemals erreicht hat. Bestattet wurde sie in Bielefeld auf dem schönen Sennefriedhof. Dort möge sie ihre letzte Ruhe finden.
Unbedachte Verstorbene - Jeder hinterlässt eine Spur
Einen besonderen Dank möchte ich noch der Diplom-Pädagogin Andrea Geertz zukomen lasssen. Sie war über die Stadt Bielefeld und das Vormundschaftsgericht von Amts wegen die letzte Betreuerin meiner Schwester. Ihrer Aufgabe ist sie mit viel Tatkraft und Leidenschaft nachgekommen. Das habe ich bei ihren Vorgängern vermisst, die sich ebenfalls um meine Schwester gekümmert haben. Durch Frau Andrea Geertz habe ich einiges über den Lebens- und Leidensweg meiner Schwester Sylvia in Erfahrung bringen können, was mir ansonsten niemals möglich gewesen wäre. Dafür bin ich sehr dankbar!
Andrea Geertz
Mein vierter Besuch in Ummeln
Mein vierter Besuch in Ummeln
Gedächtnisprotokoll,
aufgeschrieben am Dienstag, den 15. September 2015.
Am Samstag, den 14. Juni 2014 besuchte ich meine Schwester erneut.Der
Tag stand unter keinem guten Stern. Davor hatte ich meine Schwester
letztmalig im im Mai 2012 besucht, im September 2011 hatte ich überraschend ihre
Tochter kennengelernt.
Fast
hätte ich verschlafen, und so blieb nur noch Zeit, mit etwas Kaffee
für unterwegs zuzubereiten, wollte ich meinen Zug bekommen, der
gegen 9.00 Uhr vom Hbf Hamburg abfuhr. Mit dem Bus ging es nach
Wandsbek-Gartenstadt, von wo ich mit der U1 zum Hbf fahren wollte.
Leider hatte die U1 aus technischen Gründen gut eine halbe Stunde
Verspätung. Auf die Idee vom gleichen Bahnsteig in die U3
einzusteigen, die ebenfalls zum Hbf fuhr, wenn auch bei anderer
Streckenführung, kam ich nicht. In der Folge verpasste ich meinen
Zug am Hbf um eine Minute. Als ich dort ankam setzte sich der Zug
gerade in Bewegung. Zwar bekam ich gut eine Viertelstunde später
einen anderen Zug, aber der hielt an ganz vielen Bahnhöfen, so dass
ich erst gegen 12.00 Uhr im Hbf Hannover eintraf, und dort eine
Dreiviertelstunde Wartezeit hatte. Der Anschlusszug war ein
Regionalzug von Hannover nach Bielefeld und hielt ebenfalls an ganz
vielen Bahnöfen. So war ich erst gegen 14.30 Uhr am Bielefelder Hbf.
Mein einziger Trost wegen der Verspätung war die reizvolle hügelige
Landschaft vorbei am Wesergebirge und dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Von
Bielefeld ging es dann mit der Straßenbahn nach Brackwede, von dort
aus war die Verbindung nach Ummeln schlecht und ich war gezwungen mir
ein Taxi zu nehmen. Mit der Taxifahrerin hatte ich noch eine
interessante Unterhaltung. Sie erzählte mir viel über ihren kranken
Mann, der einen Schlaganfall erlitten hatte.
So
kam ich erst gegen 15.30 Uhr in Ummeln an, eigentlich hatte ich mich
für die Mittagszeit angekündigt. Meine Schwester machte einen
genervten, gereizten und nervösen Eindruck auf mich. Später
erzählte mir ihre Betreuerin, dass sie sich vor mir schäme, wegen
ihrer Krankheit und Gebrechlichkeit. Dazu gab es aber überhaupt
keinen Grund. Ich hatte mich ja gründlich mit ihrem Leben und ihrem
Werdegang auseinander gesetzt. „Was soll mein Bruder nur von mir
denken“ hatte sie der Betreuerin erzählt und soll auch geweint
haben. Nach meiner Begrüßung hatte man mir einen Kaffee gemacht,
und ich bekam auch ein Stück Kuchen serviert. Das empfand ich als
sehr angenehm, denn ich hatte ja den ganzen Tag noch nichts gegessen.
Meine Schwester wohnte nun nicht mehr im Haus Sonnenblick, sondern
war in dem Neubau Haus Taubenschlag umgezogen. Ein Haus, welches mir
sehr gut gefiel, dazu hatte Sylvia ein sehr schönes Zimmer in
Südwestlage, also ein Fenster zum Süden, als auch zum Westen. Dazu
hatte das Zimmer einen eigenen Sanitärbereich. Auch hatte das Haus
einen großen Balkon, auf dem auch ein Grill stand, und dort nahmen
wir Platz, und versuchten ins Gespräch zu kommen, was aber nicht so
recht gelang. Nach und nach kamen auch andere Bewohner des Hauses,
und zeigten an mir Interesse, und es kam zu dem einen oder anderen
Gespräch. Beim Abendessen gab es die einen oder anderen Reibereien,
aber das gibt es ja in jeder Gemeinschaft, ob nun behindert oder auch
nicht. Ich hatte eine Flasche Cola mitgebracht, von der auch andere
Klienten trinken wollten, aber Sylvia passte das nicht so recht. Ich
habe ihr dann sagen müssen, dass die Cola für alle am Tisch ist, so
lange der Vorrat reicht. Richtig einverstanden war sie damit nicht,
sondern reagierte eher verletzt. Das ließ sie mich auch spüren, als
ich sie nach dem Abendessen auf ihrem Zimmer besuchen wollte.
Daraufhin brach ich meinen Besuch in ihrem Zimmer wortlos ab, um sie
nicht weiter zu verletzen, und weil ich auch kein Möglichkeit sah,
die Situation in den Griff zu bekommen.
Nachdem
man mir ein schönes Besucherzimmer zugewiesen hatte, suchte ich
abermals den Balkon auf, bis hin zur Abenddämmerung. Auf dem weiten
Gelände sah ich einige Hasen und zwei Rehe. Leider wurde es abends
ziemlich regnerisch, so dass ich es vorzog, das gemeinsame Wohnzimmer
der Betreuenden aufzusuchen. Dort war es behaglich, ein rotes Sofa
und eine roter Sessel mit Leder bezogen, dazu schwere Möbel aus
Eiche, das alles dürfte nicht billig gewesen sein. In dem Wohnzimmer
war ich sozusagen der einzige Gast, alle anderen Bewohner hatten sich
auf ihre Zimmer zurückgezogen. Lediglich einmal kam die
Nachtschwester mal vorbei, sie war ganz freundlich, wusste wohl, das
ich im Haus übernachten wurde, und wir tauschten ein paar Worte aus.
Es war zeitlich gesehen die Zeit, wo die Fußballweltmeisterschaft
lief, und so sah ich bis spät in die Nacht zwei oder drei
Fußballspiele, bevor ich zu Bett ging. Zwar hatte man mir ein
schönes Bett zugewiesen, aber ich habe doch schlecht geschlafen.
Am
nächsten Morgen war ich spät dran, die Frühstückszeit war fast
schon vorbei, und es gab kaum noch Kaffee. Eine Bewohnerin, die ich
schon von dem Haus Sonnenblick kannte, war so freundlich, extra für
mich einen Kaffee zu kochen. Danach wollte ich meine Schwester auf
ihrem Zimmer besuchen. Die Tür stand auf, und ein Pfleger war dabei,
sie zu waschen. Dezent und unbemerkt zog ich mich zurück, und
verbracht viel Zeit auf dem Balkon, wo sich das eine und andere
Gespräch mit den Bewohnern des Hauses ergab. Bald darauf gab es
Mittagessen, und ich saß wieder mit am Tisch mit allen Klienten und
wieder gab es kleine Rangeleien (Fenster auf, Fenster zu, darum ging
es). Nachdem Essen wollte ich mit meiner Schwester zum Haus
Sonnenblick gehen, aber sie setzte die Hürden so hoch, wollte sich
erst mal umziehen, was sie alleine gar nicht konnte, so dass ich ohne
sie zum Haus Sonnenblick ging. Mein Zeit war ja begrenzt und mein
Fahrplan wäre durcheinander gekommen. Im Haus Sonnenblick führte
ich abermals viele Gespräche, viel der dort Untergebrachten kannten
mich ja noch von meinen vorherigen Besuchen. Rasch verging die Zeit,
und zu Kaffee und Kuchen war ich wieder rechtzeitig im Haus
Taubenschlag. Eine Frau, die ihre Tochter besuchte, hatte eine
leckere selbst gemachte Erdbeertorte mitgebracht, und auch ich bekam
ein Stück ab.
Danach
blieb noch umfassend Zeit, mich mit der Betreuerin Frau Brücker zu
unterhalten, und ich erzählte viel aus dem Leben von Sylvia und von
meiner Familie. Alles in allem eine sehr traurige Geschichte. Wohl
gegen 16,00 Uhr verließ ich Haus Sonnenblick und streichelte Sylvia
im Beisein der Betreuerin die Wangen. Es war das letzte mal, dass wir
uns gesehen haben.
Ungefähr
gegen 18.00 Uhr fuhr mein Zug vom Bielefelder Hauptbahnhof zurück
nach Hamburg, wo ich das eine oder andere mal umsteigen musste. In
Erinnerung ist mir auf der Rückfahrt eine junge Mutter geblieben,
die mit zwei ganz kleinen , reizenden Kindern nach Hamburg unterwegs war.
Zwischen 21.00 und 22.00 Uhr war ich wieder zu Hause.
Mein
fünfter und letzter Besuch in Ummeln
Gedächtnisprotokoll,
aufgeschrieben am Mittwoch, den 16.09.2015.
Gegen Ende Juli erhielt ich von der Evangelischen Stiftung Ummeln
einen Anruf, dass auf dem Stiftungsgelände in der dortigen Kirche am
Dienstag, den 04.08.2015 um 14.30 Uhr eine Trauerfeier für meine
Schwester stattfindet Ich sagte mein Kommen zu. Davor war meine
Schwester bereits auf dem Sennefriedhof bestattet worden. In dem
Zusammenhang erhielt ich auch einen Anruf von der Tochter meiner
Schwester, die ebenfalls zur Trauerfeier kommen wollte. Gleichzeitig
lud sie mich dazu ein, nach der Trauerfeier mit ihr nach Steinfurt
zu fahren, wo sie auf einem Bauernhof wohnt. Gerne nahm ich die
Einladung an, immerhin hatten wir uns gut vier Jahre nicht mehr
gesehen, und kaum etwas von einander gehört.
Diesmal
erreichte ich meinen Zug am Hbf Hamburg pünktlich, und sollte gegen
11.20 Uhr im Hbf Bielefeld ankommen.Dort wollte mich die Betreuerin
meiner verstorbenen Schwester mit dem Auto abholen, worüber ich mich
sehr gefreut habe. Leider ging wieder alles schief, was nur schief
laufen konnte.
Mein
Zug kam pünktlich in Hannover an. Der Zug nach Bielefeld hatte wohl
zwanzig Minuten Verspätung und seine Endstation war Köln. Er war
überfüllt, aber mit etwas Glück bekam ich noch einen Sitzplatz.
Mit einem jungen Mann kam ich ins Gespräch, und sagte zu ihm, dass
die Verspätung wohl wieder aufgefangen werden könnte. Bis ungefähr
Herford ging alles gut, aber dann kam eine Durchsage über den
Bordlautsprecher,dass es ein technisches Problem gäbe. Der Zug
verlangsamte seine Geschwindigkeit, blieb des öfteren stehen, und
fuhr teilweise nur noch im Schneckentempo weiter. Es beschlich mich
allmählich eine Ahnung, dass ich wohl nicht rechtzeitig zur
Trauerfeier kommen könnte. Auch tat mir die Betreuerin leid, die
mich ja vom Bahnhof in Bielefeld abholen wollte. Nach mehreren etwas
ratlosen Durchsagen und um Geduld bittend, hieß es dann endlich,
dass auf der Streckenführung nach Bielefeld ein Unglück passiert
sei, und der Zug umgeleitet werde, und nicht in Bielefeld ankommt. So
wurde man immer weiter vertröstet, und dann ging es glaube ich über
Osnabrück, Oldenburg, Münster bis nach Hamm (Westf.). Dort musste
ich mich wiederum sehr beeilen, um noch einen Regionalzug nach
Bielefeld zu bekommen. Diesen Zug verließ ich in Gütersloh, um
sozusagen Zeit zu sparen, aber meine Rechnung ging nicht auf. In
Gütersloh wollte ich mir ein Taxi nehmen, aber dort akzeptierte
niemand meine EC-Karte. So etwas geht in Gütersloh nicht. So nahm
ich einen Bus nach Brackwede, der ziemlich lange unterwegs war, und
auch am Sennefriedhof vorbei fuhr. Als ich in Brackwede ankam fing es
an zu regnen, und ich war ziemlich ratlos. Die Trauerfeier für meine Schwester war längst vorbei. Zum Glück kam ich auf die Idee, in der
Evangelischen Stiftung Ummeln anzurufen, und bald darauf holte mich
die ehemalige Betreuerin meiner Schwester, Frau Brücker, mit dem Auto
ab. Viel Zeit blieb nicht mehr, aber es reichte noch, um sich gut zu
unterhalten, und mir Kaffee und Kuchen anzubieten. Auch konnte ich
meine Nichte Meike begrüßen, die schon Vormittags in Ummeln eingetroffen
war. Sie war schon reisefertig, und hatte einiges aus dem „Nachlass“
meiner Schwester erhalten. Ich selbst nahm nichts mit, was mich an
meine Schwester erinnert hätte. Das wollte ich einfach nicht. Auch schilderten meine Nichte und Frau Brücker mir in
bewegender Weise, wie es bei der Trauerfeier zugegangen war. Dennoch
war ich froh, dass ich noch einmal an den Ort kam, wo meine Schwester
Jahrzehnte ihres Lebens verbracht hatte. Viel Zeit blieb nicht mehr,
und Frau Brücker brachte meine Nichte und mich zum Bielefelder Hbf.
Dort bestiegen wir einen Zug nach Münster, und ich fuhr wieder die
gleiche Strecke zurück, die ich zuvor gekommen war. Meine Nichte und
ich hatten uns viel zu erzählen, und von Münster aus bestiegen wir
einen Regionalzug nach Steinfurt, wo wir gegen 19.20 Uhr ankamen.
Dort hatte Meike ihr Fahrrad abgestellt und dann ging es zu Fuß zu
ihrer Wohnung, einem alten etwas heruntergekommenen Bauernhof, aber
sehr romantisch.Nach dem langen Fußmarsch und dem langen Tag der Anreise, war ich doch ziemlich erschöpft. Aber es ist immer wieder angenehm, in einer kleinen Stadt oder Ortschaft zu sein, wo so etwas wie Ruhe eingekehrt ist, man kaum Leute auf der Straße trifft, ganz zum Gegensatz zu Hamburg.
Burgsteinfurt - Bauernschaft Hollich
Siehe auch: Ein Besuch in Ummeln (Teil 1)
(wird fortgesetzt)
2 Kommentare:
In Gedanken zünde ich für Silvia eine Kerze an.
Ihnen, Herr Zielke, wünsche ich Kraft und Zuversicht in dieser schweren Zeit.
Bürgit
Vielen Dank für Ihr Beileid,
ein kurzes und leidvolles Leben ist zu Ende gegangen.
Nach der Aussage ihrer Betreueist ist sie friedlich eingeschlafen.
Wenn ich die Zeit und den Mut finde, werde ich den Lebensweg von Sylvia auf diesem Post festhalten, stellvertretend für alle ehemaligen Heimkinder, die zumeist ein schweres Schicksal hinter sich haben.
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